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Balkan-Klänge mit Akkordeon und Blasinstrumenten, die doch irgendwie Indie-Pop sind. Möglich gemacht durch einen 19-jährigen Ami. "Gulag Orkestar", die cleverste Platte des Jahres.

Mein erster Gedanke: "Everything Is Illuminated". Die letztjährige Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jonathan Safran Foer und Geschichte eines amerikanischen Juden, der in der Ukraine nach den Wurzeln seiner Herkunft sucht. Ein hinreißend schrulliger Streifen. Mit jener besonders herzlichen Note, wo man nur schwer widerstehen kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Soundtrack. Zum Besten gegeben von Schauspiel-Debütant Eugene Hutz, ein in die USA emigrierte Ukrainer und hauptberuflich Kopf der Gypsy-Punk-Formation Gogol Bordello. Wobei wir beim eigentlichen Thema angekommen sind: Zigeunermusik. Wahlweise osteuropäische Volksmusik. Der Sound vom Balkan. Eigentlich nicht weit entfernt, gleich um die Ecke. Und trotzdem Musik aus einer anderen Welt. Zumindestens für mich.

Zach Condron a.k.a. BeirutWenn da jetzt aber irgendein vermeintlicher Wunderknabe auf die Idee kommt, den musikalischen Flair des Ostens in das Indie-Pop-Korsett zu stecken, dann macht das die Sache plötzlich auch für meine Wenigkeit interessant. So geschehen bei "Gulag Orkestar", dem Debutalbum von Beirut. Das Bemerkenswerte daran: Dessen Mastermind kommt nicht etwa aus Odessa, sondern aus den USA. Zach Condron stammt aus Albuquerque, lebt in New York und ist gerade mal 19 Jahre alt. Zugegeben: Auch ich wollte - nachdem ich "Gulag Orkestar" erstmals zu Ohren bekam - weder Herkunft noch Alter trauen. Was in aller Welt bringt einen amerikanischen Teenager - der noch dazu hunderte Instrumente zu beherrschen scheint - dazu sich an osteuropäischer Musiktradition zu versuchen? Noch dazu in einer Art und Weise, die keinesfalls aufgesetzt oder altbacken daherkommt, sondern vielmehr mit seiner modernen Herangehensweise zu überraschen weiß. Indie-Pop mal anders, was einer ganzen Fraktion aufgeschlossener Betrachter der aktuellen Musikszene neue Horizonte öffnet. Und noch dazu im Stande ist Fantasien anzuregen. "A trumpet from Paris, farfisa organ, accordion, piano, ukelele, mandolin, glockenspiel, violin, cello, tambourine. The air powered organ I bought on twelth street. Congo drum donated from the neighbors. A broken microphone stolen from the university of New Mexico..." Man stelle sich Rufus Wainwright vor, der mit Hilfe für ihn eher untypischen Instrumentarium russische Volkslieder zum Besten gibt. Und trotzdem nach Rufus Wainwright klingt.

Bei aller Vergleiche mit balkanischem Kulturgut, "Gulag Orkestar" ist trotzdem ein durch und durch eigenständiges Album geworden. Vor allem weil Zach Condron in seiner musikalischen Vorgehensweise einen gewissen Stürschädel beweist. Da wäre zuallererst dieser gewissen Proberaum-Charme, den dieses Album umgibt. Alles andere als aus-, gleichzeitig aber auch keinesfalls ver- oder überproduziert. Mit ein Verdienst der Zusammenarbeit mit Jeremy Barnes, einst Mitglied von Neutral Milk Hotel. Man höre sich nur mal deren "In The Aeroplane Over The Sea" an, veröffentlicht 1998 und letztes Jahr neu aufgelegt. Ein gerne übersehener Klassiker des Indie-Pop/Rock, wo man ganz ähnlich zur Sache ging. Dazu kommt noch diese bezaubernde Mischung aus typischen Volksmusikinstrumenten - mit so ziemlich allem außer Gitarren - und Condrons wehmütigem Gesang. Was "Gulag Orkestar" einerseits fremdartig klingen lässt, andererseits dem Album aber auch eine gewisse Eingängigkeit verleiht. Letzteres vor allem aufgrund dieser gehörigen Portion Herzschmerz bei Stücken mit solch ungewöhnlichen Titeln wie "Prenzlauerberg", "Brandenburg", "Rhineland (Heartland)" oder "Bratislava". Wunderbar melancholisch. Und so richtig schön dramatisch. Wer sich von "Gulag Orkestar" nicht anstecken lässt, ist selbst schuld. [Album-Stream]

Beirut: Gulag OrkestarBeirut
Gulag Orkestar
05.06.2006 (UK-Import)


[beirutband.com]
[myspace.com/beirut]